Menschliches Gehirngrößen-Gen vergrößert auch Gehirn von Affen

(23.06.2020) Dresdner und japanische Forscher zeigen, dass ein menschenspezifisches Gen einen größeren Neokortex beim Weißbüschelaffen hervorruft.

Die Vergrößerung des menschlichen Gehirns, insbesondere des Neokortex, während der Evolution steht in engem Zusammenhang mit unseren kognitiven Fähigkeiten wie Denken und Sprechen. Ein bestimmtes Gen mit dem Namen ARHGAP11B, welches nur der Mensch hat, veranlasst die Hirnstammzellen, mehr Stammzellen zu bilden, eine Voraussetzung für ein größeres Gehirn.


Mikroskopische Aufnahme eines Hirnhälften-Schnitts eines 101 Tage alten ARHGAP11B-transgenen Weißbüschelaffen-Fötus. Die Zellkerne sind weiß dargestellt. Pfeile zeigen einen Sulcus und einen Gyrus an.

Bisherige Studien haben gezeigt, dass ARHGAP11B, wenn es in Mäusen und Frettchen in unphysiologisch hohen Mengen gebildet wird, einen vergrößerten Neokortex hervorruft, aber seine Bedeutung für die Evolution der Primaten war bisher unklar.

Forscher des Max-Planck-Instituts für molekulare Zellbiologie und Genetik (MPI-CBG) in Dresden zusammen mit Kollegen des Zentralinstituts für Versuchstiere (CIEA) in Kawasaki und der Keio-Universität in Tokio, beide in Japan, konnten nun zeigen, dass dieses menschenspezifische Gen, wenn es im Weißbüschelaffen, einem Neuweltaffen, in physiologischen Mengen gebildet wird, einen vergrößerten Neokortex hervorruft.

Dies legt die Vermutung nahe, dass ARHGAP11B während der menschlichen Evolution eine Vergrößerung des Neokortex verursacht haben könnte.

Die Forscher veröffentlichten ihre Ergebnisse in der Fachzeitschrift Science.

Der menschliche Neokortex, der evolutionär jüngste Teil der Großhirnrinde, ist etwa dreimal so groß wie der unserer nächsten Verwandten, der Schimpansen, und seine Faltenbildung nahm im Laufe der Evolution zu, um in den begrenzten Raum der Schädelhöhle zu passen. Eine zentrale Frage für Wissenschaftler ist, wie der menschliche Neokortex so groß wurde.

In einer Studie aus dem Jahr 2015 hatte das Forscherteam um Wieland Huttner, Direktor und Forschungsgruppenleiter am MPI-CBG, festgestellt, dass Mausembryonen unter dem Einfluss des menschenspezifischen Gens ARHGAP11B im embryonalen Neokortex viel mehr neuronale Vorläuferzellen produzieren und sogar ihren normalerweise glatten Neokortex falten können.

Diese Ergebnisse deuteten darauf hin, dass das Gen ARHGAP11B eine Schlüsselrolle bei der evolutionären Expansion des menschlichen Neokortex spielen könnte.

Die Entstehung des menschenspezifischen Gens

Das menschenspezifische Gen ARHGAP11B entstand durch teilweise Duplikation des ubiquitären Gens ARHGAP11A vor rund 5 Millionen Jahren, nachdem sich zwei Evolutionslinien voneinander getrennt hatten: die eine führte zum modernen Menschen, dem Neandertaler und dem Denisova-Menschen, die andere zum Schimpansen.

In einer Anschlussstudie im Jahr 2016 entdeckte die Forschungsgruppe von Wieland Huttner eine überraschende Ursache dafür, dass das ARHGAP11B-Protein eine Sequenz von 47 Aminosäuren enthält, die für den Menschen spezifisch ist, im ARHGAP11A-Protein nicht vorkommt und für die Fähigkeit von ARHGAP11B zur Vermehrung von Hirnstammzellen essenziell ist.

Es führte nämlich ein punktueller Austausch einer C- zu einer G-Base im ARHGAP11B-Gen zum Verlust von 55 Nukleotiden bei der Bildung der ARHGAP11B-Boten-RNA, was eine Verschiebung im Leseraster verursacht, die wiederum zu der menschenspezifischen, funktionell essenziellen Sequenz von 47 Aminosäuren führt. Diese Punktmutation dürfte sehr viel später erfolgt sein als die Entstehung des Gens selbst vor rund 5 Millionen Jahren, vermutlich irgendwann im Zeitraum von vor 1,5 Millionen bis rund 500.000 Jahren.

Punktmutationen sind nicht unüblich, doch im Fall von ARHGAP11B scheint der Vorteil so gravierend gewesen zu sein, dass diese genetische Variante die menschliche Evolution unmittelbar beeinflusst hat.

Die Wirkung des Gens bei Affen

Bisher war jedoch ungeklärt, ob das menschenspezifische Gen ARHGAP11B auch bei nichtmenschlichen Primaten einen vergrößerten Neokortex verursachen würde.

Um dies zu untersuchen, arbeiteten die Forscher in der Gruppe von Wieland Huttner mit Erika Sasaki am Zentralinstitut für Versuchstiere (CIEA) in Kawasaki und Hideyuki Okano an der Keio-Universität in Tokio, beide in Japan, zusammen.

Diese japanischen Forscher sind Pioniere bei der Entwicklung einer Technologie zur Erzeugung transgener nichtmenschlicher Primaten.

Der Erstautor der Studie, Postdoc Michael Heide, reiste nach Japan, um mit den Kollegen direkt vor Ort zusammenzuarbeiten. Gemeinsam erzeugten sie transgene Weißbüschelaffen (Neuweltaffen), die das menschenspezifische Gen ARHGAP11B im sich entwickelnden Neokortex exprimierten.

Diese Affen haben dieses Gen normalerweise nicht. Japan hat ähnlich hohe ethische Standards und Vorschriften hinsichtlich Tierversuche und Tierschutz wie Deutschland.

Die Gehirne von 101 Tage alten Föten des Weißbüschelaffen (50 Tage vor dem normalen Geburtsdatum) wurden in Japan gewonnen und zur detaillierten Analyse an das MPI-CBG in Dresden exportiert.

Michael Heide erklärt: „Wir stellten in der Tat fest, dass der Neokortex des Gehirns der Weißbüschelaffen vergrößert und die Hirnoberfläche gefaltet war. Auch die sogenannte Kortikalplatte war dicker als normal.

Darüber hinaus fanden wir eine höhere Anzahl bestimmter Vorläuferzellen, nämlich der basalen radialen Gliazellen, in der äußeren subventrikulären Zone, sowie eine höhere Anzahl von Neuronen in den oberen Schichten der Großhirnrinde.

Letztere Neurone treten charakteristischerweise in der Primatenevolution vermehrt auf.“ Die Forscher hatten nun funktionelle Beweise dafür, dass ARHGAP11B eine Vergrößerung des Neokortex bei Primaten hervorrufen kann.

Ethische Überlegungen

Wieland Huttner, der die Studie leitete, ergänzt: „Wir haben unsere Analysen ganz bewusst auf die Föten des Weißbüschelaffen beschränkt, weil wir davon ausgegangen sind, dass dieses menschenspezifische Gen die Entwicklung des Neokortex im Weißbüschelaffen beeinflussen würde.

Angesichts möglicher unvorhersehbarer Konsequenzen hinsichtlich der Hirnfunktion nach der Geburt hielten wir es deshalb für geboten – und aus ethischer Sicht für zwingend erforderlich –, zunächst die Auswirkungen von ARHGAP11B auf die Entwicklung des fötalen Neokortex des Weißbüschelaffen zu untersuchen.“

Die Forscher kommen zu dem Schluss, dass diese Ergebnisse darauf hindeuten, dass das menschenspezifische ARHGAP11B-Gen im Laufe der menschlichen Evolution eine Vergrößerung des Neokortex verursacht haben könnte.



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