Spinnenseide: Ein verformbares Protein liefert Verstärkung

(27.09.2019) Wissenschaftler der Universität Würzburg haben herausgefunden, dass Spinnenseide ein außergewöhnliches Protein enthält. Mit Hilfe einer bisher kaum beachteten Aminosäure erzeugt es eine hohe Bindungsstärke.

Diese Erkenntnisse können für viele Bereiche von Bedeutung sein.

Was macht Spinnenseidenfäden trotz ihrer Leichtigkeit so extrem belastbar wie kaum ein anderes Material? Bei der Suche nach einer Antwort auf diese Frage sind Wissenschaftler der Julius-Maximilians-Universität Würzburg (JMU) gemeinsam mit Kolleginnen und Kollegen der Universität Mainz jetzt fündig geworden.


Spinnennetz, überlagert mit der Strukturoberfläche der Domänen eines Spinnenseidenproteins. Die Methionin-Seitenketten sind als farbige Stäbchen hervorgehoben.

Sie konnten zeigen, dass die Aminosäure Methionin einem Proteinbaustein der Spinnenseide hohe Flexibilität verleiht. Dies verstärkt die Bindung zwischen den einzelnen Bausteinen um ein Vielfaches. Die Ergebnisse ihrer Studie haben sie in der aktuellen Ausgabe der Fachzeitschrift Nature Communications veröffentlicht.

Wundermaterial mit vielen Einsatzbereichen

Verantwortlich für diese Studie ist Dr. Hannes Neuweiler, Privatdozent am Lehrstuhl für Biotechnologie und Biophysik der JMU. Er forscht schon seit vielen Jahren an Spinnenseide – genauer gesagt an deren molekularen Eigenschaften.

„Spinnenseide zählt zu den belastbarsten Fasern der Natur. Bezogen auf ihr geringes Gewicht übertrifft sie sogar Hightech-Fasern wie Kevlar oder Carbon“, sagt Neuweiler.

Vor allem ihre einzigartige Kombination von Reißfestigkeit und Dehnbarkeit mache sie für die Industrie äußerst attraktiv.

Ob im Flugzeugbau, in der Textilindustrie oder in der Medizin – die potenziellen Einsatzgebiete des Wundermaterials sind zahlreich.

Zwar wird Spinnenseide heute bereits industriell produziert und in diversen Produkten eingesetzt; die herausragenden mechanischen Eigenschaften des natürlichen Vorbilds werden damit allerdings noch nicht erreicht. Gut möglich, dass die neuesten Erkenntnisse der Würzburger Forscher dazu beitragen, dieses Defizit zu beheben.

Eine unterschätzte Aminosäure

„Wir haben entdeckt, dass Webspinnen eine bestimmte Aminosäure, das sogenannte Methionin, in einer bisher unbekannten Art und Weise einsetzen, um Seidenproteine fest miteinander zu verknüpfen“, beschreibt Neuweiler das zentrale Ergebnis der jetzt veröffentlichten Studie.

Zum Hintergrund: Alles Leben basiert auf Proteinen. Aus einem limitierten Pool von 20 verschiedenen Aminosäuren baut die Natur sämtliche Proteine auf – die wichtigsten molekularen Funktionsträger des Lebens.

Nach ihrer Biosynthese als geradlinige Ketten von Aminosäuren falten sich die meisten Proteine in hoch-geordnete dreidimensionale Strukturen.

Im Groben werden Aminosäuren nach der Art ihrer Seitenketten in zwei Gruppen unterteilt. Schlecht wasserlösliche – sogenannte hydrophobe – Seitenketten liegen häufig im Kern des Proteins und verleihen ihm Struktur und Stabilität.

Gut wasserlösliche Seitenketten befinden sich auf der Oberfläche des Proteins und sind dort für dessen schier unerschöpfliche Funktionsvielfalt mit verantwortlich.

Methionin zählt zu den hydrophoben, natürlich vorkommenden Aminosäuren. Sie ist in den meisten Proteinen jedoch eher selten zu finden. „Molekularbiologen und Proteinwissenschaftler haben ihr bislang wenig Aufmerksamkeit geschenkt.

Der Seitenkette von Methionin wird bis zum heutigen Tage nur ein geringes Funktionspotential in Proteinen zugeordnet“, sagt Neuweiler.

Drastische Verbesserung der Funktion

Diese Einschätzung könnte sich jetzt ändern. Bekannt ist, dass die Seitenkette von Methionin im Vergleich zu allen anderen 19 natürlich vorkommenden Proteinbausteinen außergewöhnlich flexibel ist.

Wie Neuweiler und sein Team nun zeigen konnten, nutzen Spinnen diese Eigenschaft, indem sie Methionin in großer Zahl im Kern der endständigen Bereiche, den sogenannten N-terminalen Domänen, ihrer Seidenproteine einlagern.

Dort überträgt die Aminosäure ihre Flexibilität auf die Gesamtstruktur der Domäne, die somit verformbar wird.

Traditionell wurden Proteine lange Zeit als starre Körper betrachtet. Jüngere Ergebnisse unterstreichen jedoch die Wichtigkeit der Dynamik eines Proteins für seine Funktion.

„Wie ein Schlüssel, der seine Form geschmeidig seinem Schloss anpasst, formen sich die Domänen der Seidenproteine um und verknüpfen sich passgenau und fest miteinander“, beschreibt Neuweiler diesen Vorgang.

Durch diesen Effekt verstärkt sich die Bindung zwischen den endständigen Bereichen um ein Vielfaches. Methionin im hydrophoben Kern von Proteinen wirkt somit wie ein „Weichmacher“ der Struktur und kann die Funktion des Proteins drastisch verbessern.

Aus der Grundlagenforschung in die Anwendung

Grundlagenforschung ist das, was Dr. Hannes Neuweiler und seine Mitarbeiterinnen und Mitarbeiter in ihren Laboren betreiben. „Wir wollen mit unserer Arbeit einen grundlegenden Beitrag zum Verständnis der Beziehung von Struktur, Dynamik und Funktion von Proteinen leisten“, sagt der Biowissenschaftler.

Gleichzeitig geht er davon aus, dass diese neuen Erkenntnisse Einfluss nehmen werden auf Anwendungen im Bereich des Designs und der Entwicklung neuer Proteine sowie in der Materialwissenschaft.

Denkbar sei es nun, Methionin künstlich in den Kern von Proteinen einzubauen und auf diese Weise – wie im Fall der Webspinnen – Proteinfunktionen zu verbessern und eventuell sogar neue Proteinfunktion zu erzeugen. Von der Erkenntnis, dass Methionin in den endständigen Domänen der Seidenproteine mitverantwortlich für deren Verknüpfung im Material ist, könne auch die Materialforschung profitieren.

Durch die künstliche Veränderung des Methioningehalts der Seidenproteine lassen sich eventuell die mechanischen Eigenschaften des synthetischen Materials steuern.

Die nächsten Schritte

In zukünftigen Arbeiten wollen Neuweiler und sein Team nun Methionin in Seidenproteinen anderer Spinnenarten und Spinndrüsen vergleichend untersuchen. Des Weiteren wollen sie Methionin in Proteine aus anderen Organismen einbauen, um deren Funktion zu verändern und eventuell zu verbessern.



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