Adaptive Architektur – ein neues Konzept zum Verständnis von Anpassungsprozessen

(02.07.2020) Viele Merkmale in der Tier- und Pflanzenzucht sind durch viele Gene kodiert, wie genomweite Assoziationsstudien (GWAS) gezeigt haben. Jedoch fehlen bisher wissenschaftliche Konzepte, um die genetische Grundlage von Selektionsprozessen zu beschreiben.

Eine soeben in „Nature Reviews Genetics“ veröffentlichte Studie der Vetmeduni Vienna präsentiert nun ein entsprechendes Konzept: die adaptive Architektur.

Die quantitative Genetik ist eine Forschungsrichtung, die zunehmend an Bedeutung gewinnt, ist in der Tier- und Pflanzenzucht verwurzelt. Mittels molekularen Kartierungsmethoden konnte gezeigt werden, dass viele Gene nicht nur an zuchtrelevanten Merkmalen, sondern auch an vielen Krankheiten des Menschen beteiligt sind.

Trotz des explosiven Wachstums genomischer Daten in der jüngsten Vergangenheit fehlt der Wissenschaft bislang ein einheitlicher Rahmen, der die Dynamik von Genvarianten beschreibt, die an Anpassungsprozessen – ausgelöst durch Umweltveränderungen (i.e. global warming) – beteiligt sind.


Bulle (Weißblauer Belgier)

Erweiterung bisheriger Modelle der genetischen Architektur

Aufbauend auf neueren theoretischen und empirischen Arbeiten führen die ForscherInnen – Neda Barghi und Christian Schlötterer vom Institut für Populationsgenetik der Vetmeduni Vienna sowie Joachim Hermisson von den Max Perutz Labs und der Fakultät für Mathematik der Universität Wien – das neu entwickelte Konzept der adaptiven Architektur ein.

Dieses Modell erweitert die genetische Architektur eines adaptiven Merkmals um Faktoren, die sein Anpassungspotential und seine populationsgenetischen Prinzipien beeinflussen. Da die Anpassung typischerweise durch viele verschiedene Kombinationen adaptiver Allele (Redundanz) erreicht werden kann, beschreiben die AutorInnen, wie zwei Merkmale – Heterogenität zwischen Loci und Nichtparallelität zwischen replizierten Populationen – Kennzeichen für die Charakterisierung der polygenen Anpassung in sich entwickelnden Populationen sind und dieser einheitliche Rahmen auf natürliche und experimentelle Populationen angewendet werden kann.

Leistungsfähige Methode zur Analyse genetischer Anpassungen

Laut Erstautorin Neda Barghi vom Institut für Populationsgenetik der Vetmeduni Vienna bieten sowohl die experimentelle Evolution als auch natürliche Populationen, die eine parallele phänotypische Evolution aufweisen, ein großes Potenzial zur Untersuchung von Nichtparallelität und Heterogenität, um die genetischen Grundlagen der Anpassung zu verstehen.

„Wir gehen davon aus, dass die Kombination von Zeitreihendaten mit replizierten Populationen eine besonders leistungsfähige Methode sein wird, um die genetische Architektur der Anpassung aufzudecken“, so Barghi.

Von der experimentellen Studie zum besseren Verständnis der Evolution in der Natur

Von besonderem Interesse sind laut den ForscherInnen speziell entwickelte experimentelle Evolutionsstudien, sowohl im Labor als auch, wann immer möglich, in natürlichen Umgebungen.

„Kleinere Populationsgrößen erhöhen die genetische Drift, was zu mehr Heterogenität innerhalb der Populationen und Nichtparallelität zwischen Populationen führt.

Bei einem ausreichenden Replikationsgrad ist es jedoch möglich, zuverlässige Signaturen zu erhalten, die von neutralen Variationen unterschieden werden können. Die Reduzierung der Anzahl adaptiver Allele führt zu stärkeren Selektionsreaktionen einzelner Allele und bietet das Potenzial für eine weitere funktionelle Charakterisierung“, so Studienleiter Christian Schlötterer, Leiter des Instituts für Populationsgenetik der Vetmeduni Vienna.

Sobald die adaptive Architektur eines Merkmals durch experimentelle Evolutionsstudien gut charakterisiert ist, wird es laut dem Forschungsteam möglich sein, den Fokus auf natürliche Populationen zu erweitern, um deren Dynamik in komplexen Systemen zu verstehen.

Publikation

Der Artikel „Polygenic adaptation: a unifying framework to understand positive selection“ von Neda Barghi, Joachim Hermisson und Christian Schlötterer wurde in Nature Reviews Genetics veröffentlicht.


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