Tierärzteverband warnt vor nicht mehr behandelbaren Infektionen

(09.07.2021) Bei der Kategorisierung von Antibiotika müssen Wissenschaft und Tierschutz-Belange Vorrang vor Politik haben

Über den von der EU-Kommission vorgeschlagenen delegierten Rechtsakt über „Kriterien für die Einstufung antimikrobieller Mittel, die für die Behandlung bestimmter Infektionen beim Menschen vorbehalten sind“ wird im zuständigen Ausschuss für Umweltfragen, öffentliche Gesundheit und Lebensmittelsicherheit (ENVI) des EU-Parlaments am  13. Juli 2021 abgestimmt.

bpt Während die meisten Mitgliedsstaaten den nach wissenschaftlichen Kriterien von der Europäischen Arzneimittelbehörde (EMA) in Abstimmung mit der Europäischen Behörde für Lebensmittelsicherheit (EFSA), dem Europäischen Zentrum für Prävention und Kontrolle von Krankheiten (ECDC), der Welttiergesundheitsorganisation (OIE) und der Weltgesundheitsorganisation (WHO) erarbeiteten echten One-Health-Vorschlag befürworten, wollen einige Abgeordnete des Europäischen Parlaments, insbesondere der Fraktion der Grünen, den Entwurf auf den letzten Metern zu Fall bringen.

Sie haben einen Entschließungsantrag eingebracht, um die Kriterien noch strenger zu gestalten und so ein weitreichendes Verbot des Antibiotikaeinsatzes bei Tieren zu erreichen.

„Die Abgeordneten verkennen dabei, dass Antibiotikaklassen, die auf die Reserveliste gesetzt werden, nicht nur für lebensmittelerzeugende Tiere verboten werden, sondern für ALLE Tierarten, also auch für Hunde, Katzen, kleine Heimtiere, Exoten, Pferde und Zootiere, und keine Ausnahmen zulässig sind“, macht Dr. Siegfried Moder, Präsident des Bundesverbandes Praktizierender Tierärzte sein Unverständnis deutlich.

„Die Zahl der verschiedenen Antibiotikaklassen, die für die Verwendung bei Tieren zur Verfügung stehen, ist im Vergleich zu denen, die in der Humanmedizin verfügbar sind, ohnehin sehr eingeschränkt.

Die Auferlegung zusätzlicher Beschränkungen ohne stichhaltige wissenschaftliche Argumente über die im delegierten Rechtsakt definierten Kriterien hinaus würde zu einem erheblichen Therapienotstand führen und hätte damit schwerwiegende Auswirkungen auf die Tiergesundheit und das Wohlergehen der Tiere und potenziell auch auf die öffentliche Gesundheit und Lebensmittelsicherheit“, erläutert Moder.

Politiker und Tierhalter müssen wissen, dass, wenn der Vorschlag von EMA und EU-Kommission abgelehnt würde, bestimmte bakterielle Infektionen nicht mehr ordnungsgemäß und fachgerecht behandelt werden könnten und es auch nahezu unmöglich wäre, zoonotische Erkrankungen durch multiresistente ( “Multidrug-resistant”, MDR) Bakterien zu behandeln, die ein besonderes Risiko für die öffentliche Gesundheit darstellen, einschließlich Leptospirose, Infektionen mit Staphylococcus aureus, Escherichia coli, Salmonella spp. und Campylobacter spp..

Bei Haustieren wären z. B. häufig vorkommende, lebensbedrohliche Infektionen wie Lungenentzündung, Pyometra, Peritonitis, Pleuritis und Hautinfektionen nicht mehr behandelbar; bei Fohlen die Behandlung von Rhodococcus-Äqui-Infektionen, Septikämien und einiger Wundinfektionen nicht mehr möglich. Auch könnten viele Infektionen bei kleinen Heimtieren, Reptilien und Exoten nicht mehr therapiert werden, da eine Vielzahl antimikrobieller Wirkstoffe wegen Unverträglichkeit nicht angewendet werden können oder sogar toxisch wirken.

„Um weiterhin eine ordnungsgemäße und gezielte Behandlung zu ermöglichen, ist es wichtig, dass wir eine Reihe von verschiedenen Antibiotikaklassen weiterhin zur Verfügung haben. Durch den Einsatz des ‚richtigen‘ Antibiotikums bei einer bakteriellen Erkrankung kann, nach Erstellung einer tierärztlichen Diagnose und ggf. eines Antibiogramms, eine Resistenzbildung vermieden werden.

Die Beschränkung auf wenige Antibiotikaklassen erhöht den Selektionsdruck und führt zu einer noch schnelleren Entwicklung von Resistenzen“, erklärt Moder. Im Übrigen hat die Tiermedizin durch eine 60-prozentige Senkung der Antibiotikamengen gezeigt, dass man seit Jahren verantwortungsvoll mit der Resistenzproblematik umgeht und Antibiotika nur gezielt für eine notwendige Therapie einsetzt.

Dies gilt auch auf europäischer Ebene. Der Kampf gegen antimikrobielle Resistenzen (AMR) ist eine Gemeinschaftsaufgabe der Human- und Tiermedizin, die nicht nur zu Lasten der Tiere gehen kann.

Der in der Abstimmung stehende delegierte Rechtsakt ist ein Paradebeispiel für einen One-Health-Ansatz, da er auf dem wissenschaftlichen Gutachten der EMA basiert, das Expertenmeinungen sowohl auf Seite der menschlichen Gesundheit wie auch auf Seite der Tiergesundheit berücksichtigt. Aus diesem Grund empfiehlt die WHO bei der Kategorisierung von Antibiotikaklassen nachdrücklich, dass jegliche Einschränkungen unter Berücksichtigung der Kategorisierung eines Antibiotikums für die Tiergesundheit durch die OIE beschlossen werden sollte.

„Insoweit ist es höchst verwunderlich, dass einige EU-Abgeordneten, anstatt wissenschaftlich fundierte Argumente rechtzeitig in den rund acht Jahre (!) andauernden Gesetzgebungsprozess einzubringen, jetzt am Ende im Rahmen eines Ausführungsrechtsakts eine rein politisch motivierte Entscheidung erzwingen wollen.

„Über die Interessen derer, die den delegierten Rechtsakt ablehnen wollen, kann man nur spekulieren. Es scheint fast so, als ob die einen damit das Ende der konventionellen Tierhaltung forcieren wollen, obgleich die Verbesserung von Tiergesundheit und Tierschutz nicht in den Anwendungsbereich der Tierarzneimittelverordnung fällt, und die den Entschließungsantrag unterstützenden humanmedizinischen Verbände von der im humanmedizinischen Bereich selbst verursachten Resistenzproblematik ablenken wollen“, mutmaßt bpt-Präsident Moder.

„Wir fordern deshalb das EU-Parlament eindringlich auf, seine Entscheidung nicht auf politische, sondern auf wissenschaftliche Kriterien der EMA zu stützen und den vorgeschlagenen delegierten Rechtsakt anzunehmen.

Download: Stellungnahme des Europäischen Tierärzteverbandes FVE


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